10. Februar 2007

Cannaregio I


Das Stadtsechstel Cannaregio erstreckt sich im Norden Venedigs vom Canale di Cannaregio im Westen bis zum Canale dei Mendicanti im Osten. Es wird in Reiseführern gern als "Arbeiter-" oder "kleine-Leute"-Viertel bezeichnet, was es im Vergleich zu "große-Leute"-Gegenden wie z. B. entlang des Canal Grande wohl auch ist.
Die Besitzer oder Bewohner (viele Nicht-Venezianer und Nicht-Italiener) der Palazzi halten sich allerdings oft nur zu Besuch in ihren kostbaren Heimen auf und die Gassen sind in festen Händen glitzernder Mode-, Schmuck-, Glas- und Kunsttempel oder off Limits für Touristen.

Cannaregio dagegen ist zugänglich, und das Stadtbild wird trotzdem nicht von Touristen beherrscht. Das Arbeits- und Geschäftsleben der Venezianer dominiert, und gelegentlich behindert der touristische Schlendrian den einheimischen Gassenverkehr: Straßenkehrer mit ihren rollenden Mülltonnen, Mütter mit Kinderwagen, Lieferanten mit Sackkarren, die mit ihren jeweiligen Karossen die volle Breite der sehr schmalen Gassen einnehmen. (Ein schneller Sprung auf die nächst mögliche Türschwelle stellt den Verkehrsfluss wieder her.)

Auf den Campo Santa Maria Nova trifft man, wenn man den gelben Wegweisern "Fondamente Nove" folgt. Das wuselige Zentrum im Osten Cannaregios hat ein paar bequeme rote Holzbänke unter Akazien, einige kleine Kunsthandwerkläden/Souvenirshops, an der einen Ecke eine schöne Cafebar (auch Eis im Thekenverkauf, das man gemütlich auf einer roten Bank genießen kann), ein sehr gutes Feinkostgeschäft an der anderen, und dazwischen findet sich eine Buchhandlung, die auch Antiquarisches verkauft und sich halb auf den Campo breitet. Für den touristischen Bedarf gibt es jede Menge Venedig-Literatur und schöne Bildbände, auch in Fremdsprachen, und Kunst- und Fotodrucke, Land- und Postkarten, der Laden ist eine Fundgrube für Bücherjunkies. (Zwei Brücken weiter nach Osten, immer geradeaus und schon im nächsten Sechstel Castello, gibt es an der Kirche Santi Giovanni e Paolo eine französche Buchhandlung, die weniger chaotisch und auch nicht antiquarisch ist, aber ein gutes Angebot frankophoner Literatur hat.)

In den angrenzenden Gassen gibt es alles Weitere: Bäckerei, Apotheke, Sanität, Fleisch und Gemüse, Elektro, Li mit ihrem kleinen Glasdesignshop (Atelier P. M. Lisette Caputo, Cannaregio 5545), man kann ihr beim Herstellen von Glasschmuck zuschauen und auch Designvorschläge machen (sie spricht französisch und englisch und ist so herzlich wie energisch), eine schöne Bàcaro-Bar mit appetitlicher Cichetti (Häppchen)-Auswahl und einladende Trattorien, z. T. mit zwei oder drei Tischlein draussen in einer kleinen Erweiterung der Gasse...

Der Campo Santa Maria Nova war übrigends eine der Locations für den Film "Brot und Tulpen", der Blumenladen im Film ein Anbau der freien Hausfassade an der Ponte Santa Maria Nova.

Sehr beliebt sind die Flohmärkte auf dem Campo Santa Maria Nova. Der "Mercantino dei Miracoli", Kleiner Markt der Wunder, wird im Gegensatz zum regelmäßigen großen Antiquitätenmarkt auf dem Campo Santo Stefano (in der Nähe der Accademia-Brücke) hauptsächlich von Einheimischen besucht.

2007 findet er zu folgenden Terminen statt:
Letzter Samstag und Sonntag im März, 25. April, jeweils 2. Samstag und Sonntag des Mai, September, Oktober, Dezember. (Die nicht ganz eindeutigen Termine im März entsprechen der kommunalen Ausschreibung.)

Kleiner Markt der Wunder heißt er nicht, weil man dort Wunder erstehen könnte, sondern weil am Campo Santa Maria Nova die Kirche Santa Maria dei Miracoli liegt, getrennt vom Campo durch einen kleinen Kanal (Foto oben und unten). Die Kirche ist benannt nach einem wundertätigen Marienbild, das sich im Inneren befindet, die Geschichte des Wunderbildes erzählt jeder Venedig-Reiseführer in Einzelheiten. Ihre Restaurierung wurde vor wenigen Jahren beendet und neben ihrem ungewöhnlichen Äußeren aus Marmorpanelen und Zierscheiben aus rotem und grünem Porphyr entzückt mich bei jedem Besuch wieder die Atmosphäre und Schönheit des Kircheninneren mit den wunderbaren Steinmetzarbeiten, besonders an Empore und Altarraum, der Kassettendecke, der gesamten dreidimensionalen Aufteilung des Raumes und seine unterschiedliche Ausleuchtung durch die hohen Fenster je nach Tageszeit.

Die Kirche ist für Besucher geöffnet Mo-Sa 10-17:30 Uhr und So nur nachmittags und eintrittspflichtig. Sie gehört der Vereinigung Chorus an. (Einzeleintritt 2,50 €, Chorus-Pass für alle 16 angeschlossenen Kirchen 8 €, ein Jahr gültig. Man kann bei nur einem Kurzbesuch unmöglich alle 16 Kirchen besuchen, aber beim Besuch von nur drei Kirchen hat sich der Preis für den Pass fast schon ausgeglichen.) Vor 10:00 Uhr kann man auch ohne Eintritt 'beten' (pregare). Ich vermute, dies trifft auch auf die anderen Kirchen zu.

Ob man den Campo S. Maria Nova über die Gasse am Feinkostladen oder die Gasse an der Eisbar verlässt, man kommt jetzt in die Gasse der Steinmetze, denn der Friedhof San Michele ist nah. Die Souvenirs, die man hier erstehen kann, sind ungewöhnlich und schwergewichtig: ein Marmormörser für die Küche, eine Marmorplatte mit Namensgravur und Schalllöchern für die Türklingel...

Aber nur wenige Meter weiter finden sich delikatere Angebote in zwei Werkstätten, die zum Zuschauen bei der Arbeit und/oder einem interessanten Gespräch einladen: eine Glaswerkstatt, in der ausschließlich Tiere hergestellt werden, zum kleinen Teil der Sorte "niedlich", zum großen Teil anatomisch sehr exakt gestaltete Insekten, Frösche, Fische... vor allem auf Kinder wirkt das Schaufenster wie ein Minizoo.
Die zweite Werkstatt ist die Druckerei von Gianni (Gianni Basso, 'Stampatore', Calle del Fumo 5306), der behauptet, der letzte Drucker zu sein von ehemals bis zu 200 Druckereien in der Stadt im 15./16. Jahrhundert, als ein nicht geringer Teil des gesamten italienischen Buchdrucks in Venedig abgewickelt wurde. Gianni nennt sich 'Nachfahre von Gutenberg' und betreibt Marketing nicht nur durch die Qualität seiner Produkte, sondern auch durch seine extroviertern Persönlichkeit. Wer alte Druckmaschinen bewundern und klappern hören, Druckerschwärze riechen, vielleicht sogar besonders schöne Visitenkaren oder Einladungskarten in Auftrag geben will (Lieferung wird auch ins Ausland geschickt), nach freier Auswahl der Lettern und (gesetzten oder holzgeschnittenen) Verzierungen, kann hier eine sehr spezielle Reiseerfahrung machen.

Die Gasse öffnet sich nach weiteren friedhofsbezogenen Steinmetz- und Blumengeschäften an den Fondamente Nove und gibt den Blick frei auf die Laguna Nord und die Friedhofsinsel San Michele mit ihrer roten Backsteinmauer, die die hohen schwarzen Zypressen bis auf ihre Spitzen versteckt, die Insel Murano und (bei guter Sicht) die Alpen, die vor allem im Winter, schneebedeckt, ein atemberaubender Anblick sind.





Keine Kommentare: