28. März 2010

Lazzaretto Nuovo

Torhaus auf Lazzaretto Nuovo



Stille.
Schweigen.
Verlassenhei
t.












Sind noch immer die Reiseführerattribute der Insel Torcello. Seit Jahren glatt gelogen, weil täglich bis zu 5000 Besucher über den einzigen öffentlichen Weg der Insel trampeln.


Aber auf die kleine Insel Lazzaretto Nuovo treffen sie zu.
Hier betritt man einen schlichten Kosmos, in dem Geschwätzigkeit kein Echo findet.


Allee zum großen Lagerhaus


Fast wäre ich mal wieder die einzige Besucherin gewesen, Samstagmorgen 9:45 Uhr bei milder Septembersonne und taunassem Gras, aber es stieg noch ein römischer Professor aus dem Vaporetto. Wir haben uns die Führerin geteilt, italianisch/englisch gemischt, nachdem wir klären mussten, dass wir keineswegs ein Paar sind!

Die Insel Vigna Murata (ein ummauerter Wein
garten im Besitz der Benediktiner von S. Giorgio Maggiore) wurde enteignet und per Erlass der Gesundheitsbehörde vom 10.7.1468 unter der Bezeichnung Lazzaretto Nuovo konvertiert für die Quarantäne einer Pestinfektion verdächtiger Personen. (Bereits Erkrankte wurden auf der Insel Lazzaretto Vecchio kaserniert. Wer in Quarantäne tatsächlich erkrankte, musste sofort die Insel wechseln. Was insgesamt aber eine ganz andere Geschichte ist.)

Erhaltene Waren-
lager-
häuser, eine
s zur Besich-
tigung


Handelsschiffe, die ja meist im Konvoi in Venedig eintrafen, wurden nach normalerweise mehrwöchiger Reise schon bei der Einfahrt in die Lagune überprüft. Im Falle von Krankheiten an Bord wurden Besatzungen und Waren für mindestens 40 Tage auf der Insel festgesetzt und dekontaminierenden Behandlungen unterzogen. Wie z. B. Waschen, Lüften, Räuchern mit unterschiedlichen Mitteln. (Man wusste noch nicht, dass die Pest von Ratten per Schiff von Hafen zu Hafen geschleppt wurde.)

Die Waren wurden in großen Lagerhäusern gestapelt,die Menschen auf der Insel in Einzelzellen entlang der Ummauerung untergebracht. Jede Zelle verfügte über einen Ofen (deshalb die vielen reihenhausähnlichen Schornsteine auf alten Darstellungen) und einen klostermäßigen eigenen kleinen Gemüsegarten. Sehr nett.


Darstellung im Museum: Große Lagerhalle, Einzelzellen, Mitte vor der Ummaue-
rung die beiden Friedhöfe - christlich, moslemisch. Räucherfeuer vor und in der Anlage


Wenn die Zellen nicht ausreichten, z. B. während der Pestepidemie von 1576, als laut Sansovino 10.000 Personen (!!), vor allem aus der Stadt selbst, unter Quarantäne standen, wurden zur Erhöhung der Kapazität rund um die Insel Schiffe, Flöße u. ä. stationiert. In diesem Fall sollen es 3.000 große und kleine Schiffe gewesen sein, die der Insel den Anblick eines Hafens unter Belagerung einer Armada gaben.

Mit einiger Mühe kann man sich die Massen an Lebensmitteln, Medikamenten etc. vorstellen, und den Personalaufwand an Ärzten, Pflegern, Apothekern, Hebammen (!), Priestern (!!), Kontrolleuren für die täglichen Selektionen für Entlassung bzw. Überweisung auf Lazzaretto Vecchio, neben Dienstleistern wie Köchen, Lebensmittelverkäufern, Frischwasserträgern, Warenlagerarbeitern etc. etc.. Bedürftige und/oder Ausländer wurden 22 Tage auf Kosten der öffentlichen Hand versorgt, danach mussten sie sich mit eigenen Mitteln, wie auch immer, erhalten.

Ausgrabung einer befestigten Straße und eines Fussbodens, wie man ihn auch aus Venedig kennt






Das Ganze war befestigt/ geschützt nicht nur durch eine hohe Mauer, sondern auch von beflaggten Pfosten und Schiffsmasten, die off limits signalisierten, und von zirkulierenden Booten der Gesundheitsbehörde, die die Einhaltung der Quarantäne kontrollierten.
Notwendige Maßnahmen, denn venezianische Bürger unter Quarantäne wurden von ihrer Familie besucht und vor allem versorgt unter massenhaftem Hin und Her, wie bis heute in mediterranen Krankenhäusern üblich...
Für die sofortige Bestrafung von Quarantänebrechern gab es zwecks Einhaltung der Quarantänebestimmungen sogar einen lokalen Galgen. Räusper.

Ausgrabung einer Einzelzelle an der Außenmauer des Lazzaretto


Es gab eine Kirche im Lazzaretto, und ich vermute, auch ein moslemisches Gebetshaus für die Schiffbesatzungen islamischen Glaubens, von dem nur bisher noch keine Reste nachgewiesen wurden. Rechts vor der Befestigung lagen jedenfalls ein christlicher und ein moslemischer Friedhof nebeneinander - zu sehen auf alten Plänen im Museum.

Das Museum befindet sich in einem der beiden Türme, die vom österreichischen Militär als Pulverlager genutzt wurden. Nach dem Fall Venedigs diente die Insel, wie z. B. auch La Certosa, ausschließlich militärischen Zwecken, erhalten wurde nur, was diesen Zwecken dienlich war.

500 Jahre alte Graffitti in der großen Warenhalle

Lazzaretto Nuovo ist dem Archeoclub d'Italia, Abteilung Venezia dauerhaft übergeben, der seit Jahren auf der Insel Grabungen durchführt.

Von April bis Oktober werden an den
Wochenenden Führungen auf der Insel angeboten, Bootsexkursionen durch die Lagune, und jährliche Sommerkurse, spannende und differenzierte Weiterbildungen und Feriencamps für unterschiedliche Zielgruppen.

Für die Führung am Samstag/Sonntag muss man sich für 9:45 bzw. 16:30 Uhr anmelden (englisch ok), man wird dann ausdrücklich noch auf den Abfahrtstermin der Linie 13 ab Fondamente Nove hingewiesen. Denn das Vaporetto hält nur auf Anfrage am Lazzaretto Nuove, genau gegenüber der Haltestelle S. Erasmo. Die Signalampel an der Haltestelle wird bedient vom Führungspersonal, das die Besucher direkt in Empfang nimmt.
Auch auf dem Rückweg wird das Vaporetto von der/dem Führer/in angefordert, man wird begleitet bis zur Abfahrt des Bootes. (Keine Chance, sich auf eigene Faust auf der Insel aufzuhalte
n!)

Graffitti in der großen Warenhalle

Auf dem Rundgang besucht man über die Wiesen wandernd die große Lagerhalle mit den bekannten Graffiti (ich stelle mir vor, wie ein armer, gelangweilter Insasse in der vollen Halle ganz oben auf den Warenstapeln hockt, direkt unter dem Dach, und an die freie Wandfläche kritzelt "... komme in Begleitung guter Gefährten aus Konstantinopel, mit Seide an Bord, und muss immer noch 22 Tage hier abreissen..."); sowie diverse kleinräumige Grabungen (Reste von Einzelzellen, gepflasterten Wegen, der Kirche etc.), und das beeindruckende kleine Museum im Pulverturm zur Geschichte des Lazzaretto. Und eine Aussichtsplattform auf der Mauer mit großartiger Übersicht auf die Inseln der Laguna Nord! Danach erkennt man jede einzelne Insel für alle Zeiten.


Blick von der Aussichtsplattform auf der Befestigungsmauer.
Oben: Torcello, Mazzorbo, Burano, S. Francesco del Deserto
Unten: S. Francesco del Deserto, S. Erasmo





Der Eintritt ist kostenlos, man wird nach dem Rundgang über die Insel um eine Anerkennung in die Spendendose des Archeoclubs gebeten. Die Anerkennung ist verdient, denn die Führung durch die junge Archäologin war (und ist vermutlich immer) sehr informativ, fachlich kompetent, zeitlich nicht eingeschränkt. Ein entspannter und doch emotional berührender Spaziergang durch einen sehr speziellen Teil von Zeit und Raum der Serenissima.

Zum Glück liegt eine 40minütige Bootsfahrt zwischen diesen intensiven Eindrücken und den Fondamente Nove. Die braucht man auch, um wieder in der Realität Venedigs anzukommen.
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1 Kommentar:

eichinger georg hat gesagt…

da liest man immer den dummen satz: über venedig sei alles gesagt. wie informativ hingegen dieser bericht!
grazie e complimenti
georg