9. September 2012

Vom Finden verschwundener Kirchen

Blick durch das Portal der Klosterkirche S. Chiara, Murano





Goethe schreibt in der 'Italienischen Reise' am 29.9.1786 über Venedig:
 
"Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks. Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr Handel geschwächt, ihre Macht gesunken ist, so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Dasein hat."



Portal S. Chiara, Inschrift knapp noch lesbar
 In Venedigs 1500 Jahren kamen und gingen Menschen die die Stadt bauten, entwickelten, immer weiter veränderten. Es wurde gebaut, umgebaut, angebaut, aufgestockt, abgerissen und größer und prächtiger wieder aufgebaut und dabei der Stil gewechselt von byzanitinisch zu gotisch zu rinascimental zu barock und weiter... Wasser, Feuer und manchmal Erdbeben hatten ihren Anteil an den Veränderungen, Kriege kaum, dafür um so mehr die Besatzungen und die Armut des 19. Jahrhunderts. 


Fassade S. Chiara Murano

Die lange wechselhaf-
te Zeit findet sich im Stadtbild wieder, oder auch nicht mehr. Aber in einer Stadt, die so alt und gut dokumen-
tiert ist wie Venedig, geht fast nichts endgültig verloren, ist allenfalls unter dem Stapel der Jahrhunderte nicht auffindbar. Der/die hartnäckige TouristIn erhält den Lohn für schmerzende Knie- und Hüftgelenke (Brückentreppen!) und geschundene Füße (10 Std. auf denselben, täglich halbwegs wiederhergestellt von Dr. Scholl's 'Freso Piede' aus der venezianischen Apotheke) in Form von Entdeckerglück, egal in welcher Form.  



Die Rede ist hier von 3 Kirchen. Eine zufällig gefunden, eine zufällig neu wahrgenommen, eine gesucht, recherchiert und 'entdeckt', die sich als Mosaikteile in meine persönliche "Venedig-Erfahrung" einfügen. JedeR VenedigfreundIn kann von solchen Erlebnissen berichten, sie sind die Basis und die Praxis unserer Begeisterung für diese Stadt.

Innenraum S. Chiara, Blick zur Apsis, ohne Dach
Zufällig gefunden: auf Murano, frühmorgens zu Fuß unterwegs von der Haltestelle Colonna zur Haltestelle Faro und in der Hoffnung, im Durchgang zwischen zwei großen Glasge-
schäften eine Abkürzung zu finden, stehe ich unerwartet vor einer herunterkommenen Kirchenfassade. An einer Stelle, die auf keinem Plan eine Kirche verzeichnet, meines Wissens.

Die Tür ist offen, innen befindet sich ein Lager von allem Möglichen, vor allem Baumaterial. (Sowas hatte ich schon mal gefunden, in S. Anna in Castello.) Annähernd gedeckt ist der Raum nur im Eingangsbereich, also wo sich vermutlich früher eine Nonnenempore befand; das Kirchendach selbst fehlt. Eigentlich stehen nur noch alle Außenwände, ein komplett entkerntes Gebäude in einem Zustand, der eine Restaurierung für alle Zeiten ausschliessen dürfte. Stein im Magen, der Morgen ist mir verdorben. 
Ich recherchiere in meinen Büchern, es ist das ehemalige Frauenkloster der Franziskanerinnen S. Chiara. (Mailkontakt zu Jeff Cotton von 'Churches of Venice': auch er wußte nicht, dass es dieses Gebäude noch 'gibt' und nimmt es in seine Listen auf.) 
Nichts steht dazu in Alvise Zorzi, 'Venezia Scomparsa', dem Buch über das verlorene (physische) Venedig;  einiges in Mary Laven, 'Die Jungfrauen von Venedig' die nicht über Gebäude schreibt sondern über die Geschichte venezianischer Nonnen (siehe Sachbücher Spalte rechts). 
Die Bewohnerinnen von S. Chiara scheinen schon im 16. und 17. Jahrhundert unter der Baufälligkeit ihres Klosters und weiterer Armut gelitten zu haben während sie gleichzeitig ihre Franzikanerbrüder in S. Francesco della Vigna materiell unterstützten. Das gibt mal wieder zu denken. Zu denken gibt auch, dass ein historisches Gebäude, obwohl noch vorhanden, völlig vergessen scheint. Das ist fast schlimmer als verschwunden. 


Ruine S. M. dei Servi und Capella dei Lucchesi vom gegen-
überliegenden Ufer des rio dei servi
Zufällig neu wahrgenommen: S. Maria dei Servi. Den ersten Blick hatte ich vor Jahren vom gegenüberliegenden Ufer des Rio dei servi und hielt für die Servitenkirche was eigentlich die (allerdings ziemlich große) Capella dei lucchesi ist. Die Kapelle der Seidenhändler aus Lucca, deren Scuola sich auf dieser Uferseite befand. Die Kapelle war geschlossen (wie immer, wie ich heute weiss), und das große Portal daneben sah ich wohl als Klostereinang, heute ist es ja der Eingang zum Ostello S. Fosca

Südeingang der Servi-Kirche
Tor zum heutigen Ostello S. Fosca




In diesem Jahr fand ich das Tor zum Ostello offen und wanderte durch einen mehrfach geteilten Innenhof, den ich durch ein Tor in einer Ruinenmauer wieder verließ und mich in einem Gemüsegarten wiederfand. Und Überraschung: die Mauer und das Tor hinter mir sind das große Portal einer Kirche.

Innenseite der ehemaligen Hauptfassade der
Servi-Kirche nach Westen, dahinter Garten & Mauer























Jetzt verstehe ich endlich die Beschreibungen von S. M. dei Servi, die so groß wie die beiden größten Kirchen Venedigs gewesen sein soll, die Frarikirche und Zanipolo. Es sind nur noch die beiden Portale vorhanden. 

Fassade mit Haupteingang der ehem. Klosterkirche der Serviten

Ich stehe vor dem Haupteingang in der Westwand, der Eingang zum Ostello befindet sich in der Südwand, die Apsis war im Osten, daneben die Kapella dei lucchesi. Dass dies die 'isola dei servi' ist, kann ich jetzt gut auf dem Plan nachvoll-
ziehen, hier gab es einmal nur die riesige Klosteranlage, ein Kreuzgang ist noch da, es könnten auch mal zwei gewesen sein. Dank Googlemaps und Bingmaps kann man ja in jeden Hinterhof gucken, was mich einerseits begeistert, andererseits peinlich berührt - zuviel Indiskretion wird mir gestattet und ich diszipliniere meine Neugier nicht. 


Westfassaden S. M. dei Servi & Capella Lucchesi
vom Ramo Liopardo aus, jenseits des
(hier nach Norden abgebogenen) rio dei servi




Auch in Alvise Zorzi's 'Venezia Scompar-
sa' (ein großfor-
matiger Doppel-
band, den man nicht mal eben so liest) finde ich jetzt die ausführliche Beschreibung der Kirche, ihrer Kunstschätze und des Verlustes. Der nur teilweise gemildert ist durch die Auslagerung in andere Kirchen und in die Accademia, Grabstätten und andere Denkmäler sind für immer verloren.




Größere Kartenansicht

Die Kunsthochschule ist zu erkennen am großen hellen Quadrat ihres Innenhofs.
Bitte klicken zwecks Vergrößerung des Kartenausschnittes.


Gesucht, recherchiert und 'entdeckt': ich wurde gebeten Informationen zu überprüfen zur Kirche San Salvatore im Ex-Ospedale degl'Incurabili: Quellen besagen einerseits, die Kirche wurde abgerissen, andererseits, sie sei im heutigen Gebäude noch enthalten. 

Biblio- und Mediathek der Kunsthochschule, Videoinstallation
anlässlich der ArtNight 2011
Einige Monate zuvor hatte ich anlässlich der ersten 'ArtNight' im Juni 2011 auch die Accademia di Belle Arti (die Kunsthochschule im Gebäude der Ex-Incurabili, nicht das Museum Accademia) besucht. Das ehemalige Ospedale degl'Incurabili ist heute nach der Nutzung als Kaserne, Waisenhaus etc. Sitz dieses Fachbereichs der Universität Venedig. Ich wußte deshalb, dass die Biblio-/Mediathek der Hochschule in einem hohen Raum mit einem Altar, hohen Fenstern, bogenverbundenen Säulen etc. aber ohne jede kirchentypische Symmetrie untergebracht ist. 
Ich mailte ein Foto dieses Raums als ersten Versuch über die 'noch enthaltene' Kirche an 'ChruchesofVenice' und ging beim nächsten Venedigbesuch in die Hochschule. Dort steht neuerdings ein großes Schild "NO TOURISTS"  und die von mir befragte Empfangssekretärin war ganz sicher, dass es innerhalb der Kunsthochschule keine Kirche mehr gäbe
Also suchte ich in Büchern und im Internet weiter. Die Information, dass Jocopo Sansovino die Kirche als Oval gebaut hatte, schloss die jetzige Mediathek sofort aus. 



Auch in diesem Fall kamen die Informationen von Alvise Zorzi: er beschreibt detailliert die Pracht der Kirche mit Statuen, Gemälden von Tintoretto, Veronese, Palma, die Emporen aus Carrara-Marmor für die MusikerInnen des Ospedale, die unvergleichliche Akkustik des ovalen Raumes. Er zählt auf, wann welche Kunstwerke der Kirche wohin verkauft wurden und wie die Zerstörung des Gebäudes wann vor sich ging. Welche Kunstwerke in Venedig erhalten sind (z. B. S. Orsola, heute in S. Lazzaro dei Mendikanti).

Und er sagt, dass die Kirche inmitten des Innenhofs, des Kreuzgangs stand. In dem heute noch der ovale Grundriss durch andersfarbige Pflasterung zu erkennen ist, umgeben von vier Pozzi in den Ecken, statt in der Mitte des Quadrats. Ich habe das nicht gesehen bei meinem Besuch wegen der Performances im Kreuzgang, aber man kann die Markierung in der Satellitenaufnahme schwach erkennen, siehe oben auf der Googlemaps-Karte.

Damit stimmt die lakonische Information: die Kirche ist zerstört, aber noch im Gebäude der Kunsthochschule, als Grundriss, enthalten. 

   



1 Kommentar:

Maria Neuhold hat gesagt…

Habe schon sehnsüchtig auf Ihren neuen Bericht gewartet - danke - profund wie immer!
Eine Buchempfehlung von mir:
Thomas Jonglez und Paola Zoffoli:
" Verborgenes Venedig " ISBN: 978-2-36195-012-5
Vielleicht wird auch Sie das interessieren.
Liebe Grüße aus Tirol
Maria Neuhold