6. Juni 2015

Palazzo Contarini Corfu und Telluria

Calle Contarini Corfu - Vor der Mauer
Der Palazzo Contarini Corfu steht an der Mündung des Rio di S. Trovaso in den Canal Grande und wird über eine Werbeagentur für Veranstaltungen angeboten, ich hatte jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit, ihn zu sehen, und war überrascht: ein torver-
sperrter. separater Weg (Calle Contarini Corfu) entlang des Rio, eine hohe Mauer, darin noch einmal ein sehr großes Tor, ein Turm (zusätzliches Treppenhaus?) an der Südwestecke des Hauses und der kleine krönende Turm über der Dachterasse, den man auch vom Vaporetto aus sieht: eigentlich hat das Haus vom Ende des 15. JHs die Form einer Burg. 


Hinter dem Tor in der Mauer: ein schöner schattiger Innenhof mit einem kleinen Garten (Zitronen-, Mandarinen- und Mispel-
bäume, Gras, Glyzinien an der Mauer), umgeben von bis zu 4 Stockwerken und möbliert mit einer vollständigen Vera da pozzo, Skulpturen und einem riesigen korinthischen Säulenkapitell, ausgehöhlt als Pflanzenbehälter. Reliefs und Spolien an den Wänden, Reste von Fresken des 18. JHs an der Hauswand, zum Teil farbiges Glas im 3teiligen Landeingang zum Androne.



Hinter der Mauer - Teil des Innenhofs (C) mm
Im Moment hat im Piano nobile die fiktive Demokratische Republik Telluria ihren nationalen Pavillon. Eine schräge Sache aus großformatigen Gemälden die weitgehend aus Zitaten bestehen, und einer Art von graphischem Tagebuch (Comic?) auf russisch und deutsch, zusammengesetzt aus sehr vielen kleinformatigen Kacheln, und einem Rieseninsekt. Letzteres hängt blau-schwarz von der Decke eines leer geräumten Raums, der, jetzt leider abgetrennt, früher Teil des Portego (langen Hauptraums zum Canal Grande) war. Alle anderen Räume sind erstaunlich möbliert - von Muranolüstern plus dazugehörigen blinden Riesenspiegeln über chinesische Sekretäre (Chippen-
dale?) Teppichen und Wandteppichen, einer Minibliothek bis zu Polstermöbeln unterschiedlichen Alters ist ziemlich alles da. Portego wie üblich schön leer, Seitenräume eher gut gefüllt. Alte Waffen, Helm und Harnisch, ein Tierfell (Wolf?) auf einem Tisch gehören nicht zum Palazzo, sondern zur Ausstellung Telluria.


Fotos sind leider verboten, auch im schönen gotische Androne. Die Werbeagentur hat eigene Fotos im www, die einen einheitlich gediegenen Eindruck machen und auch die oberen Stockwerke einbeziehen. Es gibt auch einen interessanten Bericht vom März 2015 über eine Sanierung des Gebäudefundaments.

Laut Plakat wird die Ausstellung Telluria gefördert vom Mikhail Prokhorov Fund und vom Generalkonsulat Mailand der Bundesrepublik Deutschland. Kein Hinweis auf der offiziellen Website, also recherchiere ich Vladimir Sorokin, der auf dem Plakat an erster Stelle steht und finde einen Artikel der ZEIT vom November 2014, den ich damals zur Kenntnis genommen, aber nur flüchtig gelesen habe. Es gibt ein Deutschlandfunk-Interview vom Januar und auch der Perlentaucher äußert sich. 
Sieh an. Ich bin keine Leserin von Science Fiction, sei sie noch so genial, und werde Sorokin bei allem Respekt auch nicht lesen bloß wegen der politischen Rolle, die sein Werk zu spielen scheint. Aber darf ich unabhängig von meiner Banausigkeit fragen, wieso das Auswärtige Amt mit Steuermitteln diese Ausstellung (mit)-
finanziert, die eigentlich eine Marketingmaßnahme für das schriftstellerische Werk Vladimir Sorokins ist? Vor dem Hinter-
grund, dass die deutsche Ausgabe von "Telluria", erarbeitet von 8 ÜbersetzerInnen, im August veröffentlicht wird? 

Nachtrag 5.8. 
Heute im Perlentaucher: Telluria.


Ich lese, dass 1838 Girolamo Contarini nicht nur das Haus (an Matilde Berthold) verkaufte, sondern auch die berühmte Kunst-
sammlung des Hauses der Stadt Venedig schenkte, die sich bis heute in der Accademia befindet. Gleichzeitig. 

Ich lese, dass der nächste Eigentümer ein amerikanischer Kunsthändler namens George Peabody Russell gewesen sei, der noch im 19. JH den Palazzo und den angebauten und verbunde-
nen Palazzo Contarini degli Scrigni abreissen und neu bauen lassen wollte. (Henry James soll in einem Brief getratscht haben, dass die Ausführung verhindert werden konnte - ich habe mir seine Briefe als Ebook besorgt und lese derzeit sehr gespannt...)   

Und ich finde die wunderbare Website von Ole Pein über den englischen Kleriker John Davies Mereweather, 1816-1896, der von 1855 bis 1887, also mehr als 30 Jahre, als anglikanischer Pfarrer in Venedig in seiner gemieteten Privatwohnung im obersten Stockwerk des Palazzo Contarini Corfu seine Sonntags-
gottestdienste hielt. (Die anglikanische Kirche St. George am Campo S. Vio wurde erst unter seinem Nachfolger eingerichet.)
Ole Pein hat Leben und Werk von Pfarrer John Davies Mere-
weather hervorragend recherchiert, es ist eine Freude, die Website nicht nur zu durchstöbern, sondern mit Muße zu erfor-
schen. Es findet sich unter anderem im Menü unter Semele die Beschreibung des gleichnamigen Buches von Davies Mereweather, dekoriert mit alten Fotos Venedigs und der Lagune. Unter dem Menüpunkt Venice Map eine vergrößerbare Karte Venedigs vom Ende des 19. JHs, und hinter dem Foto des Palazzo Contarini Corfu Beschreibungen und diverse, auch künstlerische, Darstellungen des Hauses. 

Ein sehr schöner und überraschender Blick auf ein Detail Venedigs der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.


Haltestellen: Accademia (L. 1), Zattere (L. 2, 5.1, 5.2.)
Palazzo Contarini Corfu mit Telluria-Banner


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